Zunftgeschichte - Zunft zum Grimmen Löwen, Diessenhofen

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Zunftgeschichte

Zunftgeschichte

Die einzige Thurgauer Zunft aus dem Mittelalter - Ein kurzer Überblick über die Zunftgeschichte

Diessenhofen um 1400, ein Eckpfeiler österreichischer Herrschaft mit einer Zunft? Die als Sammelbecken bürgerlichen Selbstbewusstseins wirkenden Zünfte von Zürich und Schaffhausen wünschte der Herzogliche Hof zu Wien doch zum Teufel! Und doch  gab es unter den Österreichern - wohl seit der Stadtgründung 1178 - in Diessenhofen die uralte Gesellschafts- und Trinkstube  zur Herrenstuben. Ihr gehörten aber kaum Handwerker an. Die Adligen der ganzen Region waren Mitglieder*. Vom gemeinen Volk wurden höchstens in Amt und Würden stehende und reiche Bürger aufgenommen.
Der streitsüchtige Grimme Leu

Mit dem mächtigen Truchsess Molli, Vertrauter der Herzoge von Österreich, war nicht gut  Kirschen essen. Vermutlich eher im Zorn als des vorgegebenen Platzmangels wegen, verliess der grimme Recke 1418 die Herrenstuben "mit 27 wolansehnlichen  Freyherren, Ritterstandts, vom Adel,  Schildt- und Helmssgenossen, thailss auch allhie gewessne Burgern, thailss in der Nachparschaft alss vermelten Orths  Zünftigen"  und liess eine neue  "ansehnliche Stuben oder Zunfft* allie erbauwen, die zum Grimmen Löwen gehaissen worden". Der schwarze Kochkessel des Truchsessenwappens eignete sich als Zunftwappen nicht so gut. Zum Emblem wurden die Kyburger Löwen gewählt. Papst Julius II. krönte 1506 die Löwen des Stadtwappens als Dank für geleistete Dienste. Nun tragen auch die Zunftleuen stolz ein Krönlein.
Die Eidgenossen beenden die Truchsessenherrlichkeit.
Zweiundvierzig Jahre nach der Gründung wurde Diessenhofen eidgenössisch. Die Stadt behielt alle Rechte. Die Trink- und Gesellschaftsstuben blieben bestehen, wandelten aber ihren Charakter. Sowohl in der älteren Herrenstube* im Haus Rehbock, wie in der neuen "Zum Grimmen Löwen"* war jetzt jeder Bürger willkommen. Für auf Berufsarten ausgerichtete Zünfte war die Stadt zu klein. Ob man im Rehbock oder bei den Leuen genössig war hing mehr von den Familientraditionen als vom ausgeübten Handwerk ab. Die Leuen galten als vornehmer, aber auch die Herrenstuben stellte Bürgermeister und Richter.
Jede Zunft zählte um die 90 Mitglieder.
Das Wissen über den Alltag der beiden Diessenhofer Zünfte* ging fast gänzlich verloren. Von der "uralten Herrenstuben" die 1798 - nach 620 Jahren des Bestehens - erlosch blieb rein gar nichts erhalten. Bei den Grimmen Löwen* zerstörte der Brand des Zunfthauses 1610, die Liquidation des Zunftvermögens 1798 und der Abbruch des Zunfthauses 1831 viele Überlieferungen. Um den Bau eines neuen Zunfthauses zu finanzieren, wurden 1832 die Zunftpreziosen und 128 Wappenscheiben verkauft. Nur zwei kostbare dieser Scheiben blieben der Zunft dank dessen, dass sie sich gesprungener Gläser wegen als unverkäuflich erwiesen. An wichtigen Schriften hat sich die 1632 erstellte Zunftbrief erhalten. Die Erinnerungen des Johannes Brunner erhellen die Periode von 1723 bis 1882 recht gut. Brunner (21.3. 1808 - 15.2. 1895) amtete viele Jahrzehnte als Zunftmeister. Dazu standen ihm bis 1723 zurückreichende Protokolle zur Verfügung. Ältere Dokumente mit Ausnahme des im Jahre 1632 erstellten Zunftbrief verbrannten beim Brand des alten Zunfthauses.
Gold für die Franzosen?
Das Ende der Diessenhofer Zünfte? Die Französische Revolution brach 1798 über die Schweiz herein und zerstörte die alte Ordnung. Die Franzosen führten den Berner Staatsschatz nach Paris und griffen zu wo sie konnten. Beide Diessenhofer Zünfte beschlossen, ihre Zunftvermögen in aller Eile zu verteilen um sie dem Zugriff der Besatzungsmacht zu entziehen. Die Herrenstuben im Rehbock überstand die Vermögensverteilung nicht. Bei den Grimmen Löwen kauften elf Herren das Zunfthaus um der Zunft den Fortbestand zu ermöglichen. Sechzehn weitere schlossen sich ihnen an. 1824 zählte die Zunft schon wieder 36 Mitglieder. Elf vaterlandbegeisterte Philanthropen erhalten die alte Gesellschaft und bauen sie weiter auf! Es waren mehrheitlich aufgeklärte Herren - Doctores, Pfärrer , Gebildete - die die Zunft zum Wohle der Gemeinde weiterführen wollten. § 6 der Statuten von 1803 deckt neue Zweckbestimmungen auf: "Streitigkeiten jeder Art sind aufs strengste untersagt. Besonders da der Zweck unserer Gesellschaft Wiedervereinigung der entzweiten Gemüter in unserm Ort ist, so wird jede bittere Bemerkung über unsere traurige Lokalrevolution bei Strafe von 1 fl verboten". Noch deutlicher fixiert das gemeinnützige Ziel der Zunft §1 der Statuten von 1830:
"Die Gesellschaft betrachtet sich als ein Verein zur Beförderung von Gesellschaftlichkeit, freundschaftlicher Annäherung und gemeinschaftlicher Unterhaltung aller Klassen der hiesigen Einwohnerschaft. Ihr Zweck schliesst also auch jedes Mittel in sich, welches hierzu führt, sowie ihr Gegenstände fremd bleiben, welche Uneinigkeit oder grosse Geldauslagen herbeiführen könnten, wie hohe Hasardspiele, Anteil an politischen Vereinen usw.".
Der Zunft gehörte man also fortan nicht mehr an, weil man Fischli, Brunner, Hanhart, Küchli, Huber, Wegelin hiess oder ein Handwerk ausübte. Wer in die Zunft wollte, hatte sich anzumelden und wurde - wenn genehm - am Zunftbott mit Handmehr aufgenommen. Der Eintritt kostete eine beträchtliche Summe, denn damit kaufte man sich in das Zunftvermögen ein. Die finanzielle Schwelle stand dem hehren Ziel "Annäherung aller Klassen" entgegen. Vor 1798 waren mindestens 180 Diessenhofer zunftgenössig. Bei den Grimmen Löwen sind es über die gut 200 Jahre nach 1798 nur noch um die sechzig.
Von der Stuben zum Casino.
Die Grimmen Löwen übernahmen also das 1632 erbaute Zunfthaus und fühlten sich darin vögeliwohl. Weniger glücklich waren sie über die zunehmend häufiger nötigen Renovationen. Als die evangelische Schule 1830 den Leuenhof kaufen wollte um an seiner Stelle ein neues Schulhauses zu bauen, entschied sich die Zunft ganz knapp für den Verkauf. Die Suche nach einem neuen Zunfthaus intra muros verlief ergebnislos. Sich extra muros anzusiedeln schien undenkbar. Doch ohne "Stuben" war die Zunft nicht glücklich. Sie wagte später dann doch den Sprung über die Stadtmauern und baute ein stattliches Gebäude von 15.6 x 10.8 m, das Casino. Mehr und mehr nannte sich die Zunft von da an Casinogesellschaft. Sie sah sich als Bildungsverein, abonnierte Zeitschriften, organisierte kulturvermittelnde Vorträge, wanderte zu kunsthistorischen Denkmälern und protegierte den Diessenhofer Orchesterverein. Bei Naturkatastrophen und patriotischen Anlässen leistete sie Hülfe. Mit einem speziell für die Zunft gedruckten Buch bedankten sich die Glarner für die zum Wiederaufbau ihres abgebrannten Ortes geleistete grosszügige Hilfe. Die Freuden des schönen neuen Casinos genoss die Zunft gerne, doch dass es immer wieder der Zuschüsse bedurfte belastete sie zunehmend. Mehr und mehr dominierten das Zunfthaus und dessen Geldbedarf die Monatsversammlungen. Zunftherr Ernst Brunner bot 1947 an, das Casino zu kaufen um es als Personalhaus und Ausbildungsstätte für seine Möbelhandlung zu nutzen. Er versprach, die Zunft hätte auch nach dem Verkauf volles Gastrecht im Casino, fast so, wie wenn es ihr noch gehören würde. Solche Schalmei-Klänge beflügelte natürlich verkaufswillige Zünfter. Das Casino wurde für 46 000 Franken verkauft. Nach Bezahlen der Schulden blieb nur wenig übrig. Brunners Versprechen waren nicht schriftlich festgehalten worden und noch weniger im Grundbuch eingetragen. aber er hielt sie grosszügig ein. In den Sechzigerjahren geriet Brunners Firma in Konkurs. Das Casino wurde von der Stadt gekauft und die Wirtschaft geschlossen. Alle Zusagen, die die Zunft zum Verkauf bewogen hatten, gingen unter. Aesse und Trinke hebt Liib und Seel zäme . . . und auch die Zunft! Bis weit ins 20. Jahrhundert bildete das Bärchtele-Essen am 2. und 3. Januar den Höhepunkt des Jahres. In guten Erntejahren assen die Herren zwei Tage überreichlich mittags und abends im Zunfthaus. Zu jeder Mahlzeit gab es 1 1/2 Liter Wein. Die aufgetischten Speisen und Getränke sind protokolliert! So weiss man über die kulinarische Leistungsfähigkeit der Altvordern Bescheid und kann sie gebührend bewundern. Dank des üblichen "Bhaltis" flossen vom zünftischen Wohlleben auch ein Rinnsal zu den von den Herrlichkeiten ausgeschlossenen Frauen und Kindern. In den im 19. Jahrhundert noch öfters vorkommenden Notjahren hingegen wurde nur ein einziges, schmales Essen gereicht. War das Bärchtelen vorbei gab es nichts mehr gratis. Fast jedes Jahr wurde reklamiert, dass im Zunfthaus gleich viel verlangt werde als im gemeinen Wirtshaus. Besonders bei den zunftgenössig gefeierten Familienfesten schwollen die Klagen an. Heiraten war offenbar ein teurer Spass. Jeden Donnerstag trafen sich die Herren im Casino zu Stammtischgesprächen, zum Billardspiel, zum Jassen und im Sommer zum Kegeln. Am ersten Sonntag des Monats fand die obligatorische Zunftversammlung statt. Ohne Essen, da wurde gearbeitet! Es herrschte Kleiderzwang. Zylinder, Stehkragen, und Gehrock waren selbstverständlich. An den Bällen, Konzerten und Vortragsabenden brachten Frauen Farbe in das Schwarz der Herrenkleider.
Die Weisen von achzehnhundert sahen weit voraus.
Ihre Entscheide stärken heute die Zunft! Als 1895 Diessenhofen Bahnanschluss bekam und mehr noch, als das Auto Mobilität brachte, löste sich die weitgehende Zentrierung auf das Städtli auf. Heute hat jeder Diessenhofer vielfältige Beziehungen zu Schaffhausen, Zürich, ja in die ganze Welt. Zwangsläufig wandern die meisten Jungen aus. Das Städtchen bietet viele Arbeitsplätze, aber je nach Berufswahl nicht die richtigen. Die alten Bürgergeschlechter, die Fischli, Benker, Brunner, Wegelin sind in Diessenhofen erloschen. Neuzuzüger füllen die Lücken. Innert zweier Generationen wird die Bevölkerung immer wieder fast völlig ausgewechselt.
Dass das Zunftrecht mit der Familienzugehörigkeit gar nichts mehr zu tun hat erweist sich als Segen. Nur deshalb, dass die Zunft sich stets frei erneuert, bleibt sie lebendig. Wer Zunftherr werden will muss örtlich veranker sein. Bei der Aufnahme verpflichtet er sich, aktiv am Zunftleben teilzunehmen. Jeden Monat steht ein Anlass auf dem Programm, entweder ein Herrenabend mit Vortrag und Essen, oder eine Exkursion oder ein Stammtischabend. Die Zunft blieb ein Herrenclub. Doch jährlich vereinigt ein Fest alle Zunftfamilien. Herrenabende mutieren nicht selten zu gemischten Veranstaltungen. Zu Ausflügen werden die Frauen geladen. Frauen als Gäste in das Zunftleben mit einzubeziehen wurde selbstverständlich.
Ambitionen, Ziele, Grenzen, Sorgen und Freuden der Grimmen Löwen.
Die Zunft hilft lokal wichtige Vorhaben zu realisieren. Sie ermöglichte beispielsweise die Neuintonierung der Orgel im Kloster Paradies. Sie pflegt auch die Beziehung zu Gleichgesinnten, freut sich über die Einladung der Schaffhauser Zünfte auf den Munot und ist dankbar dafür. Es gab auch Anläufe, mit einzelnen Zünften von Schaffhausen, Stein und Zürich, oder mit der Constaffel von Frauenfeld Kontakte aufzubauen. Aber da gelangt die Zunft rasch an Grenzen. Ihre finanziellen und personellen Quellen sind gering. Hoffnungsvoll Begonnenes schlief wieder ein. Wechselt der Fünferrat, gehen geknüpfte Bande verloren. Auch wenn Zunftherren ein reiches Beziehungsnetz pflegen, die Zunft selbst blieb ein örtlicher Verein, will primär hier an Ort als Salz der Erde wirken. Dass das Spass macht, zeigt die Mitgliederliste. Kaum je tritt jemand aus. Die einzige Thurgauer Zunft kann im fünfhundertneunundachzigsten Jahr ihres Bestehens wohlgemut in die Zukunft blicken.

Urs Roesch, Alt-Zunftschreiber und Ehrenmitglied

*Den neuesten Erkenntissen zum 600 jährigen Jubiläum zur Zunftgeschichte angepasst. Die Diessenhofer "Zünfte" waren im Mittelalter nach neuesten Erkenntnissen wohl eher noch Trink- und Herrenstuben!



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